Twitter - Is It All Over Now?
Twitter MastodonIch bin immer skeptisch, wenn dazu aufgerufen wird, ein Online-Angebot aus diesem oder jenen Grund zu verlassen. Deshalb bin ich auch immer noch bei WhatsApp. Aber natürlich gibt es auf dem Smartphone auch Signal und Telegram. Und jetzt also Twitter.
Ich nutze Google-Dienste, weil sie einfach grandios funktionieren, und bin mir bewusst, dass meine Daten für das Geschäftsmodell verwendet werden (obwohl ich auch Geld an Google bezahle, für bestimmte Angebote). Ich mag personalisierte Werbung lieber und ärgere mich bei jeder Werbepausenschleife auf Sky, dass ich mir Wettanbietermist anschauen und anhören muss, statt etwas zu sehen zu bekommen, was vielleicht etwas mit mir zu tun hat. Ich arbeite für einen Unternehmensverband, der die Digitalisierung voranbringen will, aber sicherlich für manche mehr Teil des Problems ist als Teil der Lösung. Aber ich benutze privat lieber Linux als Windows oder Mac, ich hoste viele Dienste, die ich gerne nutze, lieber selbst, als den bequemen Weg eines (vermeintlich) kostenlosen oder günstigen Angebots zu gehen. Will sagen: eigentlich bin ich nicht so leicht zu verschrecken, weder auf die eine noch auf die andere Weise.
Die Vorstellung allerdings, dass ein Mensch 44 Milliarden Euro zusammengeliehen bekommt, um sich damit an die Spitze eines weltweiten Informationsangebots zu setzen, finde ich dann doch erst einmal beunruhigend. Wenn der dann noch mit einem Waschbecken in die Lobby läuft, davon fabuliert, nun sei der Vogel “befreit” (wovon, fragt man sich da) und ohnehin schon mal gesagt hat, dass da jetzt ganz viele Leute gekündigt werden müssen (und die Entwicklerinnen und Entwickler auffordert, ihren letzten Code auszudrucken und sich für Gespräche bereitzuhalten), dann darf man sich zumindest mal fragen, ob man dauerhaft Teil davon sein möchte. Immerhin bin ich länger bei Twitter als Elon Musk. Er ist im Juni 2009 dazu gekommen, ich bereits im März 2007. Ätsch.
Auf Twitter trendete nach Bekanntgabe der Übergabe der Hashtag #Mastodon. Das wird in Publikumsmedien hierzulande gerne als “Twitteralternative” bezeichnet - und irgendwie ist es das auch. Aber es ist eben nicht wie Signal statt WhatsApp oder Telegram statt WhatsApp ein neuer Dienst, der für einen anderen empfohlen wird. Eigentlich steht Mastodon für einen anderen, wohl zu komplizierten Begriff: das Fediverse. Die Idee: Statt einem zentralen Server eines Unternehmens gibt es ganz, ganz viele verschiedene Server ganz verschiedener Leute oder Gruppen oder Unternehmen, die die betreiben. Und trotzdem können die alle miteinander reden.
Das klingt verrückt, so als ob man sich von Signal zu Telegram eine Nachricht schicken könnte. Oder von seinem Smartphone mit Vodafone-SIM-Karte auf Freundinnen und Freunde bei der Telekom anrufen könnte. Oder von seinem GMail-Account an T-Mobile-Nutzende schreiben. Ups. Vielleicht ist dezentral selbst in der digitalen Welt gar nicht so die Ausnahme?
Es ist natürlich alles ein bisschen anstrengender. Zum Beispiel bis man einen Account hat. Weil es einfach mehr Auswahlmöglichkeiten gibt und niemanden, der einem auf dem schnellsten Weg zur Monetarisierung, äh, zum Erfolg führen will. Und weil kein Venture Capital in die Infrastruktur geflossen ist (in der Regel) hakt es auch mal, wenn plötzlich ganz viele Leute gleichzeitig vorbeikommen. Dafür kann man aber auch einfach seinen eigenen Server aufmachen - und sein eigener Mini-Elon-Musk im Fediverse werden.
Ich persönlich glaube übrigens nicht daran, dass Twitter jetzt leergefegt wird. Es gibt ja genug Leute, die es super finden, wenn dort Donald Trump wieder hetzen (wir erinnern uns an die Tweets am Tag des Sturms auf das Capitol, aber nicht nur die) darf - und nicht nur der. Und vielleicht kommt es ja auch ganz anders und von den großen Musk-Plänen bleibt nicht so viel übrig. Oder vielleicht setzt der Exodus auch erst ein, wenn das ganze Twitterversum monetarisiert werden soll, was bislang ja nur so leidlich geklappt hat - die 44 Milliarden müssen ja wieder reinkommen, irgendwie, irgendwann.
Aber ich finde das Fediverse (und vor mir aus: Mastodon) einen spannenden Ort. Bei dem mir in der kurzen Zeit, in der ich dort reingeschnuppert habe, mehr nette Menschen begegnet sind, als bei Twitter in den letzten Monaten zusammen. Und wo es auch deutlich mehr Interaktion und Austausch gibt. Ein bisschen, ja, hat es was von der “guten alten Zeit”, als man seinen Comnputer mit Akustikkoppler und dann Modem an diese merkwürdige Welt der Mailboxen angeschlossen hat. “Fediverse feels like Fidonet”, schreibt jemand. Ich muss sagen, ich fand Fido nie schlecht.
Ich würde jeder und jedem empfehlen, mal dort vorbeizuschauen. Dazu muss man weder bei Twitter gewesen sein noch dort wutentbrannt alles niederreißen. Mastodon & Co. sind etwas eigenes, das sich lohnt, sich einmal anzuschauen. Hier gibt es erste Hinweise, wie das geht. Und ich freue mich über alle, die mich dort besuchen - unter @as@social.undisruptable.technology.