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== Andreas Streim ==
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I am a digital resident and this is my ~

Orte des Grauens

Bürger Bürokratie Kunden Verwaltung

Wer heute als Einzelhändler seine Waren so verkaufen wollte wir vor - sagen wir mal: 25 - Jahren, der hätte vermutlich ein Problem und bald Kontakt mit einem Insolvenzverwalter.

Selbst Produkte, die sich selbst kaum verändert haben, müssen heute anders präsentiert werden, zum Beispiel in der Filiale einer Textilkette. Und Unterhaltungselektronik-Märkte sehen ja bei Neueröffnung schon anders als, als ihre Vorgänger aus dem Vorjahr: mehr Licht, mehr Platz und irgendwo eine kleine Kaffeebar zum entspannen zwischendurch. Und kein noch so “billich! billich!"-Möbelmarkt, der nicht am Eingang ein Spielparadies für Kinder aufgemacht hätte.

Nur ein Produkt wird offensichtlich weitgehend weiter so verkauft, wie man das eben “schon immer " gemacht hat: staatliche Verwaltung. Da kann man etwa in das Bürgeramt des Berliner Bezirks Pankow in Weißensee gehen und wird von einem imposanten Foyer geradezu erschlagen, das aber praktisch leer ist. Warten darf man dann in einem engen Flur auf Stühlen, die einen arg an die eigene Schulzeit (Grundschule, später gab’s Besseres!) erinnern und auch so aussehen, als ob sie aus den guten 70ern stammen. Ob jemand schon in einer der Amtsstuben sitzt, das lässt sich nur durch Anklopfen herausfinden. Die perfekte Kulisse für einen Andreas-Dresen-Film.

Oder auf der Familienkasse der Arbeitsagentur Berlin-Mitte. Ein funktionaler Bau der Kategorie “jetzt aber mal bitte echt hässlich”. Der “Wartebereich” im ersten Obergeschoss sind eine Menge leidlich bequemer Stühle, die in den breiten, sehr breiten, Gang gestellt wurden und perfekten Blick auf die digitale Anzeigetafel bieten, welche der zu ziehenden Wartenummer sich in welches Amtszimmer bewegen darf. Da Familienkasse gibt es auch eine Reihe Wartender mit kleinen Kindern, die immerhin den breiten Gang rauf und runter laufen können. Mehr Ablenkung, als es den erwachsenen Besuchern bei der Eine-Stunde-Wartezeit an diesem Nachmittag vergönnt ist.

Bei jedem Arzt liegen, auch für Kassenpatienten, Zeitschriften aus; in manchem Ärztezentrum gibt’s inzwischen Flachbildfernseher mit Nachrichtenkanal an der Wand, Internetarbeitsplätze und kostenlosen Kaffee. Die Kosten-Nutzen-Relation scheint zu stimmen, dem Wettbewerb sei dank. Weil ehrlicherweise sind das Kosten im Centbereich je Kunde, aber für die Wohlfühlatmosphäre geradezu unbezahlbar.

Warum gibt es aber keine Spielecke bei der Familienkasse? Keinen Kaffeeautomaten für umsonst, keine Zeitschriften? Schließlich bin ich hier der Kunde und sollte mich doch wohlfühlen. Und warum wird im Rathaus Weißensee nicht das großzügige Foyer zum Wohlfühl-Wartebereich mit bequemen Stühlen umgebaut, nett gruppiert zwischen Grünpflanzen, vielleicht garniert mit freiem W-Lan und einem Wartesystem, das einem zeigt, wann man dran ist? Und von mir aus könnte die Kaffeebar, für die da prima Platz wäre, auch an einen externen Pächter vergeben werden. Am Flughafen ist ja auch nicht jeder Service umsonst.

Warum? Weil ich als Kunde des Staates schon im voraus gezahlt habe und ich keine Alternative habe, den Anbieter zu wechseln. Mein Telefon muss nicht mehr die Bundespost anschließen, was - allem Ärger mit Privaten zum Trotz - das Angebot an Geräten vergrößert und die Wartezeiten reduziert hat. Eine Vaterschaftsanerkennung oder den Kindergeldantrag nimmt aber (leider) weiter nur die staatliche Hoheit herself an. Und sieht deshalb jeden Cent, der für das Wohlbefinden der Kundschaft ausgegeben würde, ganz offensichtlich als Verschwendung an. Könnte aber ein Trugschluss sein. Wer den Bürger so behandelt und ihn, noch immer, öfter als lästigen Bittsteller als als Kunde behandelt, der produziert meiner Meinung nach mindestens so viel Politikverdrossenheit wie bei drei Sendungen “Anne Will” am Stück.

Einziger Lichtblick: Der Trend geht dazu, dass zumindest der technisch versierte Bürger diese Orte des Grauens immer kürzer aufsuchen muss. Zwar kann man unverständlicherweise die meisten Anträge nicht online stellen, aber Berlin bietet inzwischen zumindest die Vergabe von Terminen in den Bürgerämtern via Internet an. Das funktioniert recht gut - so lange es nur Wenige machen. Die können dann nachher in Ruhe ihren Kaffee bei Starbucks & Co. nehmen. Und dort in einer aktuellen Zeitung blättern.

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